Kennst du die Nagoas und Guaiamuns?
Nein?
Ich bis vor kurzem auch nicht, aber es ist eine sehr interessante Capoeirageschichte über die maltas im Rio des 19. Jahrhunderts!
In diesem Artikel geht es um die Capoeira carioca, die Capoeira in Rio de Janeiro.
Du weißt wahrscheinlich, dass es in Rio die maltas gab, Capoeiragruppen, die auf der Straße kämpften und oft in zwielichtige Machenschaften verwickelt waren.
Einige von ihnen wurden von lokalen Politikern angeheuert, um Rivalen auszuschalten oder auf andere Weise ihren Wahlkampf zu unterstützen, andere kämpften auf den Straßen gegen das System.
Aber warum ist diese Capoeirageschichte so besonders?
Die Capoeira Carioca – anders als die Capoeira im Nordosten
In Rio entwickelte sich die Capoeira im 19. und 20. Jahrhundert in eine etwas andere Richtung als die Capoeira des Nordostens.
Während besonders in Bahia die Capoeira recht friedlich und versteckt ausgeübt wurde, war die Capoeira in Rio aggressiver als in allen anderen Teilen des Landes, dadurch wurde sie auch deutlich härter von Polizei und Behörden verfolgt.
Auch die maltas gab es in dieser Form nur in Rio.
Doch nicht nur die Capoeira selbst unterschied sich, auch die Capoeiristas in Rio hatten einen ganz speziellen Stil. So wird der Capoeirista dieser Zeit beschrieben:
- dünn
- Hemd mit offenen Knöpfen
- großer spanischer Hut auf dem Kopf
- Rasierklinge unter der Kleidung versteckt
- trug immer einen Gehstock bei sich
Dieser Capoeirista hielt sich überwiegend in Bars und Kneipen auf, trank, spielte und rauchte und war immer von Frauen umgeben.
Er liebte Musik und ihm entging nichts in seiner Umgebung, die er wachsam aus dem Augenwinkel beobachtete.
Schon von weitem erkannte man ihn an seinem geschmeidigen, lockeren Gang und er war auf jedem Straßenfest zu finden
Seinerzeit war Rio in die sogenannten freguesias aufgeteilt, Stadtteile, von denen jeder eine eigene malta hervorbrachte. Diese Capoeiragruppen bestanden aus 20 bis 100 Capoeiristas und gaben sich zum Teil exotische Namen, wie zum Beispiel flor de uva (Weinblüte).
Zwei große Gruppen, die Nagoas und die Guaiamuns, wurden besonders bekannt, vor allem wegen ihrer starken Rivalität untereinander. Sie kontrollierten ganz Rio und spalteten die Stadt.
Wer waren die Nagoas?
Die Nagoas, deren Name vom afrikanischen Stamm der Nagô stammt, war eine Gruppe aus afrikanischen Sklaven. Andere Ethnien durften den Nagoas nicht beitreten. Als Erkennungszeichen benutzten sie ein weißes Band.
Die Nagoas waren eher in den aufstrebenden Randbereichen der Stadt zu finden, sie stammten überwiegend aus dem Viertel Glória.
Wer waren die Guaiamuns?
Der Name Guaiamuns stammt aus einer der indigenen Sprachen Brasiliens und auch die Gruppe beschränkte sich nicht auf afrikanische Sklaven, sondern bestand aus Mulatten, Portugiesen und anderen Einwanderern. Die Guaiamuns waren die ersten, die die Rasierklinge im Kampf mit der Capoeira kombinierten.
Sie stammten aus dem heutigen Viertel Cidade Nova und trainierten jeden Sonntag an einem öffentlichen Platz des Viertels.
Die Guaiamuns kontrollierten vor allem die Hafenregion und das Stadtzentrum von Rio und benutzten ein rotes Band zu Erkennung.
Eine Capoeirageschichte von Rivalität und Gewalt
Warum gerade diese beiden Gruppen so verfeindet waren, ist nicht ganz klar, allerdings bestand schon in den verschiedenen Ethnien ein großes Konfliktpotenzial.
Sobald sich Mitglieder der beiden maltas auf der Straße oder auf öffentlichen Veranstaltungen begegneten, begann auch schon der Kampf. Dabei kam es nicht selten zu schweren Verletzungen und sogar Todesfällen, sowohl von Capoeiristas, aber auch von Außenstehenden.
Doch die Capoeiristas bekämpften sich nicht nur untereinander, sonder terrorisierten zum Teil auch die Bewohner der von ihnen kontrollierten Stadtteile, wohl auch, um sich für die Leiden der Sklaverei zu rächen.
Es gibt mehrere Erzählungen, nach denen die beiden maltas bei öffentlichen Militärparaden die Zuschauer verschreckten und bedrohten. So setzten sie sich vor die Parade und demonstrierten mit Capoeirabewegungen und Waffen ihr Können und ihre Macht, was dazu führte, dass die örtliche Polizei immer härter gegen ihre Anhänger vorging.
Dabei wurden die Capoeiristas hart ausgepeitscht und wie Schwerverbrecher behandelt. Die Angst der Behörden vor den maltas ging so weit, dass es zeitweise verboten war, sich abends in einer Gruppe von mehr als 4 Leuten auf der Straße auch nur zu unterhalten.
Die Maltas als politisches Instrument
Doch trotz dieser Repressalien bestanden die maltas fort, was nicht zuletzt daran lag, dass sich die Politiker ab Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Macht zu Nutze machten. Im Gegenzug beschützten sie die Capoeiristas vor zu harter Bestrafung. So wurde 1830 ein Gesetz erlassen, nachdem die Strafe für das Ausüben der Capoeira 300 Peitschenhiebe nicht übersteigen durfte.
Die maltas sollten dafür Werbung für den entsprechenden Politiker bzw. seine Partei machen und ihren Einfluss in den armen Bevölkerungsschichten geltend machen, um die Wahlen im Sinne der jeweiligen Politiker zu entscheiden. Teilweise zwangen sie die Leute auch einfach, bei den offenen Wahlen die von ihnen unterstützten Politiker zu wählen. So gewann der Politiker, der die stärkste malta der Stadt für seine Zwecke gewinnen konnte.
Aber die Politiker waren nicht die einzigen, die sich die Fähigkeiten und den Einfluss der großen maltas zu Nutze machten. Mehrmals heuerte das brasilianische Militär die Gruppen an, um Revolten niederzuschlagen oder den Krieg gegen Paraguay für sich zu entscheiden.
Capoeira in der neuen Republik
Und nicht nur das: Sogar die Monarchisten rund um Prinzessin Isabel nahmen die Dienste der Capoeiragruppen in Anspruch, als der Gedanke einer Republik in der Bevölkerung immer mehr Befürworter fand. Dafür gründeten sie die “Guarda Negra”, eine paramilitärische Organisation aus schwarzen Capoeiristas, die republikanische Veranstaltungen aufmischte und sämtliche Werbung für die Republik zerstörte.
Als 1889 trotzdem die Republik ausgerufen wurde, nutzte die neue Regierung ihre Macht, um die Capoeira ins Strafgesetzbuch aufzunehmen und noch härter zu bestrafen. Um die Capoeiristas aus der Stadt zu bekommen, mussten sie ihre Strafen nun auf der Insel Fernando de Noronha absitzen, rund 2500 km von Rio entfernt.
Besonders der neue Polizeichef Rios, Sampaio Ferraz, ging besonders hart gegen die Capoeira vor und deportierte in seinen 40 Dienstjahren rund 1500 Capoeiristas auf die Insel. Selbst Capoeiristas aus angesehenen Familien und mit Beziehungen bis in die Regierung konnten sich der Verhaftung nicht entziehen.
So verschwand die Capoeira aus den Straßen der Stadt, wurde jedoch heimlich in Kneipen und versteckten Orten weiter ausgeübt. Viele Capoeiristas verließen auch die Stadt, da die Capoeira an anderen Orten weniger verfolgt wurde.
Fazit:
Die Capoeira in Rio hat eine völlig andere Geschichte als die im Nordosten Brasiliens.
Bis heute gibt es Unterschiede zwischen den Capoeiragruppen, die mit dieser Geschichte in Verbindung stehen, auch wenn die moderne Capoeira natürlich nur noch wenig mit den Praktiken aus dem 19. Jahrhundert gemein hat.
Quellen
http://www.angolangolo.com/textos/texto_05.htm
http://www2.uol.com.br/historiaviva/reportagens/gangues_do_rio_de_janeiro.html
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